Geschichte der Naturfreundebewegung

Der am 11. Sept. 1855 in Schlesien geborene Lehrer Georg Schmiedl (gestorben 1929) ließ ab dem 22.3.1895 drei mal folgende Anzeige in der „Wiener Arbeiter-Zeitung“ erscheinen:

Naturfreunde werden zur Gründung einer touristischen Gruppe eingeladen.
Ihre Adressen unter Natur 2080 einzusenden an die Expedition“

Was bewog den Lehrer Georg Schmiedl zur Aufgabe dieser Anzeige?

Zu jener Zeit war die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung katastrophal. Die tägliche Arbeitszeit betrug 12 bis 16 Stunden, die Bezahlung war kärglich, Urlaub war praktisch ein Fremdwort. Unfallvorschriften und Arbeitsschutz waren weitgehend unbekannt. Politisch und wirtschaftlich war die Arbeiterschaft rechtlos. Schmiedl, als Lehrer mit sozialistischer Einstellung – er kam über die Freidenkerbewegung in sozialistische Kreise - erkannte die soziale und wirtschaftliche Not der arbeitenden Bevölkerung. Auf Wanderungen mit seinen Schülern kam ihm auch der Gedanke, die ausgebeuteten, stumpf und gleichgültig dahinvegetierenden Arbeiter für die Schönheiten der Natur zu begeistern. Seiner Vorstellung nach hatte jeder Mensch das Recht auf freie geistige und kulturelle Entwicklung.
Nach Erscheinen der Anzeige meldeten sich bald 30 Interessenten. Schon am 14. April, dem Ostersonntag, wurde der erste Ausflug in den Wiener Wald organisiert. Bei der Gründungsversammlung dieser ersten Naturfreundeortsgruppe in Wien am 16.9.1895 waren es schon 185 Männer und Frauen, und es wurde der Freidenker und spätere Sozialist, der Sensenschmied Alois Rohrauer zum Obmann gewählt. Dritter im Bunde war Karl Renner, der damals als Student bei Rohrauer wohnte. Renner, nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Bundespräsident Österreichs, hat seine humanistische Geisteshaltung in dem Zeichen der „verbrüderten Hände“ zum Ausdruck gebracht. Karl Renner starb 1950.
1897 erschien zum ersten Mal die Zeitschrift „Der Naturfreund“. Es entstanden weitere Ortsgruppen, zuerst in Österreich, dann grenzüberschreitend in der Schweiz (Zürich 1905), und in Deutschland (München 1905). Im April 1905 hatte die Ortsgruppe Wien den Bau eines Naturfreundehauses beschlossen. 1907 wurde das erste Naturfreundehaus auf dem Padasterjoch eingeweiht. Vor allem wandernde Handwerksburschen waren es, die die Idee der Naturfreunde in alle Welt hinaustrugen. Besonders Buchdrucker und Metallarbeiter, gewerkschaftlich organisiert, waren hier führend. 1933 betrug die Zahl der Ortsgruppen des Weltvereins bereits 1310. Den größten Teil stellten Deutschland mit 828 und Österreich mit 251 Ortsgruppen.

Gründung der Ortsgruppe Stuttgart

Mit Genehmigung der Kanzlei des Weltvereins in Wien wurde am 20. April 1910 die Ortsgruppe Stuttgart gegründet. Die Gründungsversammlung mit 50 Mitgliedern fand im einstigen Gewerkschaftshaus, im „Goldenen Bären“, in der Esslinger Strasse in Stuttgart statt. Der Jahresbeitrag wurde auf 3 Mark festgelegt. Heute steht dort das Breuninger Parkhaus. Die Gründungsmitglieder waren vorwiegend Zugereiste, die in ihrer Heimat schon Mitglieder bei den Naturfreunden waren oder diese auf der Wanderschaft kennen gelernt hatten und viele von ihnen verdienten ihren Lebensunterhalt bei der Firma Bosch. Jeden Monat fanden zwei Veranstaltungen statt: eine Mitgliederversammlung und ein Vortragsabend. Ein gebürtiger Berliner namens H. Lindenberg wurde zum ersten Obmann gewählt. Weitere Gründungsmitglieder waren Amandus Motander (gründete 1912 auch die Ortsgruppe San Francisco), Arthur Wegener und der „Genosse“ Horlitz (riefen 1914 die Ortsgruppen Paris sowie London ins Leben). Innerhalb der Ortsgruppe wurden Sektionen gebildet für Wanderungen, Zugreisen, Fotoarbeiten, natur- und erdkundliche Exkursionen und nicht zuletzt Kinderwanderungen. Die Einrichtung einer Reisesparkasse erleichterte den Mit­gliedern die Teilnahme an touristischen Unternehmungen. Um finanziell schwachen Mitgliedern die Teilnahme am Wintersport zu ermöglichen, wurden Ski und Rodel leihweise ausgegeben. Das Paar Ski kostete 50 Pfg, der Rodel 20 Pfg.
„Berg frei“ wurde bald zum Gruß der rasch wachsenden Naturfreundebewegung.
Eine der schönsten Tätigkeiten der jungen Ortsgruppe offenbarte sich in der Durchführung von Kinderwanderungen. Schon bei der zweiten Wanderung für die Kleinen war die Zahl der jungen Wanderer so groß, dass man zu Gemeinschaftsverpflegung übergehen musste.
Aus einem Protokoll über eine Kinderwanderung mit 250 Kindern am 17. August 1913 liest man über den Aufwand an Verpflegung:
"...man benötigte 105 kg Brot, 25 kg Rindfleisch, 5 kg Nudeln, 20 kg Butter, 20 kg Ge­bäck, 5 kg Schokolade, 2 kg Tee, Zitronen, Zucker und Diverses.“
Im Oktober 1910 wurden die Zusammenkünfte der Ortsgruppe in das Restaurant „Sonnenhof“ beim Feuersee verlegt, dessen Besitzer Mitglied der Ortsgruppe war. Bei der Generalversammlung im Januar 1911 übernahm der Österreicher Ferdinand Steiner die Leitung der Ortsgruppe Stuttgart. Das einjährige Stiftungsfest fand im Garten des Schützenhauses in Stuttgart-Heslach statt. Auch der nun schon greise Mitbegründer des Weltvereins in Wien, Alois Rohrauer, war bei diesem Festakt zugegen und hielt die Festansprache.

Gründung des Gaues Schwaben und Situation um 1912

In der Umgebung von Stuttgart gab es bereits 11 Ortsgruppen, die sich im Februar 1912 zum Gau Schwaben zusammenschlossen. Es waren die Ortsgruppen Stuttgart, Cannstatt, Feuerbach, Kornwestheim, Esslingen, Zuffenhausen, Heilbronn, Göppingen, Reutlingen, Schwäbisch Gmünd und Heidenheim. Das „Steinknickle“ wurde am 6. Juni 1913 als erstes Naturfreundehaus in Württemberg eröffnet.
Aus Wien wurden die Mitglieder mit der Zeitschrift „Der Naturfreund“ beliefert. Vereinsnachrichten der Ortsgruppe Stuttgart wurden zweimonatlich dazugelegt. Nach Gründung des Gaues Schwaben wurden die Stuttgarter Vereinsnachrichten zum Mitteilungsblatt „Aufstieg“ ausgebaut. 1923 erreichte die Mitgliederzahl im Gau Schwaben mit fast 13.000 ihren Höchststand. Die Wirtschaftskrise und die Meinungs-verschiedenheiten innerhalb der Organisation hatten in den folgenden Jahren einen starken Rückgang des Mitgliederstandes zur Folge. Der Grund: Die deutschen Naturfreunde fassten einen „Unvereinbarkeitsbeschluss“ gegenüber der KPD und verloren etwa ein Drittel ihrer Mitglieder (1931 = 80 Ortsgruppen mit 6600 Mitgliedern).
Im bewegten Jahr 1912 gab es u. a. folgende politische, für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht unbedeutende Ereignisse:

Geschichte der Ortsgruppe Degerloch

Die Anfänge

Die Ortsgruppe Degerloch des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ wurde im Oktober 1928 gegründet. Initiator war Herr Beckmann, der im Saal des Gasthauses „Waldhorn“ in Degerloch eigene Lichtbilder über seine Wanderungen zeigte. Die zahlreich Versammelten gründeten dort anschließend die hiesige Ortsgruppe der Naturfreunde. Das damalige Informationsblatt „Degerlocher Anzeiger und Filder-Rundschau“ berichtete bereits am 1. 11. darüber und fügte hinzu: „Die Naturfreunde sind ein Glied der großen Kette der Arbeiterorganisationen“.
Dieser Gründungsversammlung folgte eine Mitgliederversammlung, bei der auch ein erster Funktionärsausschuss gewählt wurde: 1. Obmann Karl Mattes, ein Buchdrucker aus der Falterau, 2. Obmann Otto Neef und Kassier Willy Zanker. Bereits am Sonntag, den 26. Oktober wanderten die neu organisierten Naturfreude erstmals gemeinsam. Aber sie beschränkten sich nicht darauf zu wandern und dabei zu singen, sondern liebten es auch, instrumental zu musizieren (Ziehorgel, Mandoline, Zither, Gitarre). Die Übungsabende der „Musiksektion“ der Ortsgruppe fanden jeden Montag in der Wohnung des 1. Obmanns statt. Dazu kamen Vortragsabende. Informationen über die Veranstaltungen der Naturfreunde fanden die Bürger im „Degerlocher Anzeiger“. Das Konzept der Naturfreunde lockte viele neue Mitglieder.
Das Glück der Naturfreunde währte bis 1933, dann wurden sie verboten, alle Naturfreundehäuser beschlagnahmt.

Der Neubeginn

Nach Kriegsende nahmen die Naturfreunde auch in Degerloch einen neuen Anlauf. Die Neugründung wurde am 17.02.1946 im Gasthaus „Zur Krone“ (später das „Rhodos“) gefeiert. Der Landesvorsitzende Emil Birkert hielt eine programmatische Rede und erklärte als Hauptziele eine gute Verbindung von Jung und Alt (man sang „Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’“) sowie die Nachwuchsförderung. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach 13 verlorenen Jahren drückte man aus durch das Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“.
Obmann der Degerlocher Ortsgruppe blieb Ewald Eitel bis 1947. Als er verzog wurde Max Waizmann für ein Jahr Obmann, bis Felix Reichert dieses Amt durchgehend bis 1961 übernahm.
Schon 1946 wurde eine Kindergruppe gegründet. Die neue Musikgruppe probte in der „Filderbahn“ in der Karl-Pfaff-Straße (heute „La Taverna da Enzo“).
Die Naturfreunde fanden beim Wandern, Musizieren und bei Lichtbildvortrags-veranstaltungen regen Zulauf. Die Degerlocher Bürger fanden das Veranstaltungs-programm auf drei Anschlagtafeln. Wichtigstes Jahresereignis war die Traditions-wanderung am 6. Januar: Da trafen sich alle, die laufen konnten.
Einen Raum für die 14tägig stattfindenden Gruppenabende fand man in der Filderschule (Zeichensaal, später Musiksaal). Diesem Beisammensein fehlte jedoch der gemütliche Ausklang, weil die Schulklingel unerbittlich um 21:30 Uhr zum Aufbruch aufforderte.
Öffentlich wandten sich die Naturfreunde hauptsächlich durch Lichtbildervorträge an die Degerlocher. Die Ortsgruppe konnte mit ihren Schilderungen über eigene gemeinsame Wanderungen oder über die Erlebnisse bekannter Bergwanderer Samstag abends oder Sonntags morgens die Degerlocher Kinos „Dehli“ (später „Nanz“, heute „Lidl“) und „Luxor“ (heute „Tengelmann“) gegen Eintritt total füllen!
Ab 1963 gab es in Degerloch die Fachgruppe „Motortouristik“. Sie führte ein- bis fünftägige Wanderungen durch. Das Auto diente nur zur Anfahrt. Um Dokumentation des Erlebten bemühte sich eine „Fotogruppe“, die aber auch eigens „Fotowanderungen“ organisierte.
Eine Jugendgruppe blieb nicht lange zusammen, da für ihre Treffen ein geeigneter Raum fehlte. Der Kindergruppe erging es nicht viel anders. Beide Gruppen wollten auch nicht die Schule zu ihrem Treffpunkt machen, hatten sie dort doch schon vormittags ihre Zeit verbracht oder gar gelitten.

Endlich ein eigenes Haus

Das Fehlen eines eigenen Heimes machte sich immer mehr bemerkbar, und ein Vereinsheim war schon seit Jahrzehnten eine Wunschvorstellung in den Köpfen vieler Naturfreunde. Da der bisherige Obmann Karl Stetzler nicht nur krank wurde sondern auch wegzog, wandte sich nun sein Nachfolger Karl Kayser wegen der Raumfrage an den damaligen Bezirksvorsteher Mende. Nach langen Verhandlungen wurde schließlich 1968 von der Stadt das „Dampfhaus“, Roßhaustr. 61 zur Miete angeboten. Das war das Gebäude des Degerlocher Wasserwerks, das den Stadtteil ab 1872 mit Wasser versorgte und dessen Betrieb 1908 eingestellt wurde. Die Jahreshauptversammlung 1969 beschloss zwar, sich diese Möglichkeit nicht entgehen zu lassen, ahnte aber wohl nicht mit welchem Aufwand der erforderliche Umbau verbunden sein würde. Der neue Obmann, Werner Zschocher, und alle Funktionäre opferten für ihr Ehrenamt von 1969 bis 1972 viele Arbeitsstunden.
Das Haus schien für die Zwecke der Naturfreunde zunächst völlig ungeeignet: Form und räumliche Einteilung waren so wie vorhanden nicht zu gebrauchen. Der Umbau fing z.B. mit dem Erstellen eines Kellers an. Bei defektem Kanalsystem, verrottetem Wasser-leitungsnetz und verfaultem Fachwerk waren Aufwand und Kosten wesentlich höher als erwartet. Die Herichtung konnte nur als Gemeinschaftsakt mit sehr viel Eigenleistung gelingen. Jeder Einzelne hätte sonst vielleicht aufgegeben.
Wichtig war, zuerst für die Kinder zu sorgen: Das hieß einen Raum auszubauen und einen Spielplatz herzurichten. So konnte man, geleitet von Inge Kaiser, den Kindern alle zwei Wochen ein gemeinsames Singen, Spielen, Basteln usw. bieten. Dann erst wurde ein Tagesraum erstellt und eine Küche wurde soweit vorbereitet, dass sie später modernisiert werden konnte. Danach folgten Dachausbau und Außenverputz.
Erst drei Jahre nach Beginn konnten die Naturfreunde schließlich genießen, eine Bleibe nicht nur in ihrem Stadtteil Degerloch sondern dort auch noch direkt am Wald zu haben.
Das Haus ziert eine Inschrift, die als Werbung des Wasserwerks für die Degerlocher Bevölkerung gedacht war, die sich noch bis 1872 das Wasser in Eimern holen musste, und die als Leitmotiv für eine überbevölkerte Welt dienen könnte: „ Das Beste aber ist das Wasser“. Übrigens: das Wasser aus verschiedenen Degerlocher Quellen sammelt sich heute noch in den Katakomben des Naturfreundehauses in einer Zisterne.
Bald konnte das Programm der Naturfreunde wieder richtig anlaufen. Neben den Wanderungen gehörte dazu natürlich die Nutzung des Hauses als Treffpunkt für die Ortsgruppe und für Gäste, mit der Möglichkeit der Bewirtung. Und es stand ab jetzt immer ein Raum zur Verfügung für die Veranstaltungen des Kulturprogramms und für alle Arten des gemütlichen Beisammenseins, und ganz wichtig: man hatte endlich Raum genug für eine Kindergruppe und konnte auch die Jugendgruppe wiederbeleben.

Noch mehr Komfort

Wie bei vielen anderen traditionellen Vereinen auch sind aus vielen aktiven Jüngeren inzwischen aktive Senioren geworden. Aber sie waren und sind noch so fit, dass sie mit dem Einsatz vieler Arbeitsstunden und allen voran der langjährige Vorstand Helmut Wolf noch einen weiteren Umbau bewältigen konnten: die Ergänzung um Übernachtungs-möglichkeiten. Das Naturfreundehaus erhielt acht Betten in drei Dachgeschossräumen. Dazu kamen noch sanitäre Anlagen, ein neues Treppenhaus, eine bessere Dachisolierung und nebenbei auch noch ein Parkplatz mit vier Stellplätzen. Erleichtert wurde diese Anstrengung dadurch, dass die Ortsgruppe nach 28 Jahren Mietzahlung das Haus (nicht den Boden) 1998 kaufen konnte. Heute ist das Haus mit Garten nicht nur bei der eigenen Mitgliedern sehr beliebt, sondern wird auch von Übernachtungsgästen frequentiert und wird für Veranstaltungen von Degerlocher Interessenten gern genutzt.